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4. Egon Bahr (SPD), ehemaliger Wirtschaftsminister

Egon Bahr ist vielleicht dem Leser eher unbekannt, deswegen kurz etwas zur Person: er war ab 1956 Mitglied der SPD, in den Jahren 1972 bis 1974 Bundesminister für besondere Aufgaben, in den Jahren 1974 bis 1976 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Er gehört zu den wichtigste Mitentscheidern und Vordenkern für die Ostpolitik Willy Brandts. Von Egon Bahr stammt der Leitgedanke "Wandel durch Annäherung". Er verstarb im August 2015.

Hier wieder die Sequenz aus dem Ausgangsvideo:

 

Quelle: Youtube, Link eingesehen am 26. 11. 2015


"Es wäre langsam an der Zeit, dass einmal grundsätzlich geklärt wird, welche Relikte aus der Besatzungszeit gelten immer noch. Die deutsche Souveränität ist ja 1955 erklärt worden, aber sie war gleich Null, die Änderungen. Und das, was 1990 dann drauf gesetzt worden ist, hat das auch noch nicht grundsätzlich verändert."

Bei der Sequenz des Ausgangsvideos handelt es sich um ein Interview, das die ARD-Magazinsendung "Monitor" am 7. 11. 2013 führte. Dieses Video ist vollständig etwas schwerer im Web zu finden. eine längere Passage, die aber schon mal den Kontext herstellt, ist hier zu sehen:

 

 

Quelle: Youtube, Link eingesehen am 29. 11. 2015. Noch länger, aber leider nicht downloadbar, ist das Interview auf der Webseite von Dailymotion zu sehen. Die Sequenz des Ausgangsvideos erscheint ab Minute 08:55.

Schon wenn man die Frage des Interviewers berücksichtigt, die im Ausgangsvideo geflissentlich weg geschnitten wurde, wird der Kontext deutlich:

"Lassen Sie uns mal kurz den Fokus auf die NSA-Affäre und die deutsch-amerikanischen Beziehungen lenken: Im Sommer hieß es immer, sowohl von Fr. Merkel als auch von Obama, alle halten sich an deutsches Recht. Das wird wieder kolportiert, alle halten sich an deutsches geltendes Recht. Ist das so, wie empfinden Sie das, wie bewerten Sie das?"

Antwort Egon Bahrs:

"Also offen gestanden, ich halte das für eine Rederei. Jedenfalls nehme ich es nicht ernst, denn: Es wäre langsam an der Zeit, dass einmal grundsätzlich geklärt wird, welche Relikte aus der Besatzungszeit gelten immer noch. Die deutsche Souveränität ist ja 1955 erklärt worden, aber sie war gleich Null, die Änderungen. Und das, was 1990 dann drauf gesetzt worden ist, hat das auch noch nicht grundsätzlich verändert."

Zwischenergebnis: das Zitat bzw. die Antwort bezieht sich auf einen konkreten Sachverhalt, nämlich auf die NSA-Abhöraffäre. Weiter unten gehe ich auf den juristiscehn Kontext etwas genauer ein. Denn hier könnten durchaus noch Relikte aus früheren Zeiten eine Rolle spielen. Aber weiter Egon Bahr im Wortlaut:

"Ich habe selbstverständlich überhaupt nicht vergessen, dass Obama zugesagt hat, als er das letzte Mal hier war, dass Rammstein nicht benutzt wird für Aktionen beziehungsweise für Aktionen von Drohnen von Rammstein aus. Das ist eine Erleichterung gewesen, hat das Grundsatzproblem aber nicht aus der Welt geschafft."

Mein Kommentar:

Was Egon Bahr hier andeutet, ist ein grundlegender Konflikt zwischen Befugnissen des US-Militärs und deutschem Recht, vielleicht sogar internationalem Recht (je nach konkretem Fall).

Niemand bestreitet, dass das US-Militär in Deutschland über Befugnisse verfügt, die sich deutscher Kontrolle entziehen. Wir stellen dem US-Militär Territorium und Infrastruktur zur Verfügung auf der Grundlage des Nato-Truppenstatuts, Streitkräfteaufenthaltsgesetz u. ä. Der (juristische) Konflikt entsteht, wenn diese Truppen Aktionen starten, die gegen deutsches und/oder internationales Recht verstoßen.

Der Interviewer:

"Dann noch einmal die Frage, weil ich das einen wichtigen Punkt finde: Inwiefern ist Deutschland heute souverän oder auch nicht?"

Egon Bahr:

"Na ja, souverän ist kein Land mehr. Souverän ist nach einer Definition derjenige, der den Ausnahmezustand erklären kann. Aber das ist alles nicht mehr ernst zu nehmen in der Situation, in der im Frieden Krieg geführt werden kann. Und zwar in einem Ausmaß, das sonst nur Atomwaffen bedeuten erreichen konnten, nämlich Gesellschaften zu lähmen. Und das ist etwas, was nun alle - übrigens, die Chinesen, die wir noch gar nicht erwähnt haben natürlich auch betrifft. Die machen das mit großer Gelassenheit und Ruhe und sehen, was da aus der Wundertüte rauskommt, was die beiden da machen. Aber jedenfalls ist völlig klar: Von mir her gesehen müsste es in der Fortsetzung dessen sein, was man mit Chemiewaffen schon gemacht hat, nämlich eine internationale kontrollierbare gemeinsame global wirkende Regelung. Was man mit Atomwaffen gemacht hat: Die Spaltung des Atoms hat uns nicht nur fabelhafte Energiemöglichkeiten verschafft, sondern auch Bomben gebracht. Und das Netz, an dem wir uns jeden Tag erfreuen, weil es unser Leben bequemer macht, hat selbstverständlich auch militärische Konsequenzen. Aber das betrifft eben auch alle und wird nur geregelt werden können, wenn man Vereinbarungen, die alle betreffen, die über diese Fähigkeiten verfügen, akzeptieren, kontrollierbar akzeptieren."

Mein Kommentar:

Bahrs Ausführungen über ABC-Waffen sind der Grund, von einer eingeschränkten Souveränität zu sprechen. Der erste Satz stimmt natürlich. Aufgrund internationaler Abkommen und bilateraler Vertträge ist die Souveränität eines jeden Landes eingeschränkt. Ich erinnere nur an die Souveränitätsabgabe Deutschlands in vielen Politikfeldern an die EU. Nicht umsonst heißt es ja überspitzt, dass Brüssel uns regiere. Egon Bahr spricht hier aber von eingeschränkter Souveränität als Ergebnis internationaler Kontrolle von ABC-Waffen.

Darüberhinaus ist der Verzicht auf die Herstellung von ABC-Waffen Ergebnis der Verhandlungen zur Aufhebung der Besatzung 1955. Konrad Adenauer erklärte damals einseitig den Verzicht auf die Herstellung solcher Waffen, da in der Nachkriegszeit die für die Einbindung in westliche Militärbündnisse, insbesondere auch der NATO-Beitritt, aus Sicht der Alliierten einer Rüstungskontrolle bedurfte.

Der Interviewer:

"Lassen Sie uns ganz kurz bei dem Punkt bleiben 'Alliierte Vorbehaltsrechte'. Wir haben das so ein bisschen angestoßen, aber noch nicht darüber gesprochen. Sie hatten ja, wenn ich Sie richtig verstehe, gesagt, es gab diese Vereinbarung zwischen Deutschland, den Alliierten, die wurde fortgeführt und gilt doch eigentlich bis heute fort."

Antwort Egon Bahrs:

"Ja, es sind Milderungen passiert, aber es würde sich lohnen, das systematisch aufzuarbeiten, um festzustellen, was ist eigentlich daraus geworden, dass wir alle souveränen Rechte bekommen sollten, die wir mit der deutschen Einheit bekommen haben. Damit meine ich jetzt nicht Artikel 105/107 der Charta der Vereinten Nationen. Das ist erledigt, das steht in Verbindung mit der großen Angst aller Staaten in den vereinten Nationen, um Gottes willen, nicht anfangen, dann kommen alle mit Änderungswünschen. Das wird weiter funktionieren, weil die beiden Mächte oder alle vier Mächte darauf verzichtet haben, sich auf die Feindstaatenklausel noch zu berufen. Insofern sind wir souverän."

Der Interviewer:

"Aber inwiefern sind wir nicht souverän?"


Die Antwort Egon Bahrs:

"Ich kann Ihnen das nicht im Einzelnen sagen. Ich habe nur, ich habe eine Ausarbeitung über 10/12 Seiten gelesen, was alles geklärt werden müsste. Das ist mehr, als ich Ihnen jetzt aufzählen kann. Aber es würde sich lohnen, systematisch zu erforschen, was ist eigentlich entbehrlich oder was ist eigentlich überständig, d. h. im Grund nicht mehr zu verantworten. Die einzige Sache, von der ich auf Anhieb sagen würde, sie ist von mir aus akzeptiert, nämlich das Amerika das größte Hospital außerhalb der Vereinigten Staaten hat bei uns, in dem es seine Verwundeten, Kranken etc pp. von überall her heilen kann oder überführungsfähig machen kann nach Amerika."

Mein Kommentar:

Gerade hier in der letzten Sequenz wird Herr Bahr nicht konkret. Eine Abhandlung von 10-12 Seiten, deren Quelle er nicht nennt, ist wohl wenig geeignet, die These zu belegen, dass Deutschland nicht souverän sei im Sinne einer Besatzung. Vermutlich meint er eine Zusammenfassung des Historiker Foschepoth, die die Überwachung Deutschlands durch US-Geheimdienste bis 1990 thematisiert (Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, 4. durchges. Auflage, Göttingen). Auf diesen Aspekt gehe ich am Ende meiner Ausführungen im Rahmen weiterer Betrachtungen ein.

Fazit: Auch Egon Bahr sieht eine eingeschränkte Souveränität als Folge verschiedener Abkommen, in die Deutschland eingebunden ist. Er spricht auch deutlich von "Relikten" aus der Besatzungszeit. Niemand bestreitet, dass es Abkommen gibt, die aus der Besatzungszeit bzw. genauer aus der Übergangszeit zur Souveränität 1955 stammen, die noch heute gültig sind. Diese sind auch heute nicht einseitig kündbar. Dies bedeutet natürlich - streng genommen - eine Einschränkung der Souveränität. Man kann insofern von einer Besatzung sprechen als diese Abkommen der zu zahlende Preis für die Souveränität waren, die auch nach 1990 nicht negiert worden sind. Dieses sind tatsächlich Relikte aus der Besatzungszeit.