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die Wahrnehmung antisemitischer Politik bis zum Kriegsbeginn

 

Wer Goldhagens "Hitlers willige Vollstrecker — Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" näher kennt, dem wird auffallen, daß die Fragestellung des Vortrags einen Zeitabschnitt thematisiert, den Goldhagen nicht als Schwerpunkt behandelt. Deswegen bedarf der Zusammenhang zwischen meiner Fragestellung und dem Zusammenhang mit Goldhagens These einer kurzen Erläuterung:

Goldhagens zentrale These lautet, daß der Holocaust einem tief verinnerlichten Antisemitismus entsprang, die Taten der Täter sich allein aus diesem Antisemitismus erklären. Folgerichtig war dieser Antisemitismus nach Goldhagen vorher tief verankert.
"Die antijüdische Politik der dreißiger Jahre, die auf breite Unterstützung im Volk zählen konnte, wurzelte in der eliminatorischen Ideologie, die sich in dem für die deutsche Kultur typischen kognitiven Modell von den Juden ableitete. Das Vernichtungsprogramm der Kriegsjahre gründete sich auf die gleiche Ideologie und das gleiche System von Überzeugungen, war die extreme ‚Lösung‘ eines Problems, über dessen Diagnose in Deutschland längst Einvernehmen bestand. Vor diesem Hintergrund war der Sprung zur Unterstützung der eliminatorischen Politik der dreißiger Jahre zur Unterstützung einer ‚Lösung‘, die Völkermord bedeutete, gar nicht so gewaltig, wie gemeinhin angenommen wird."

Dies erklärt dann die – nach Goldhagen – antisemitische Motivation der Täter und ihrer Taten, die er dann näher beschreibt: Polizeibataillone, jüdische Zwangsarbeit und die Todesmärsche.

Keines dieser drei Aspekte wird in meinem Vortrag eine Rolle spielen, da hierzu das gleiche Quellenmaterial herangezogen werden müßte, was in diesem Rahmen nicht möglich ist.

Es geht in meinem Vortrag um eine Kritik an Goldhagens zentraler These, daß 1933-1939 der Antisemitismus auf so breite Zustimmung stieß, wie Goldhagen behauptet.

Das bedeutet allerdings nicht, Goldhagens Ausführungen Abschnitt für Abschnitt durchzugehen und zu kritisieren. Der Erkenntnisgewinn wäre dann ebenfalls nur gering, denn es gab ja auch Zustimmung zum Antisemitismus. Mein Weg ist deshalb ein anderer (ein historisierender): Aus der Zeit heraus soll geklärt werden, wie Zustimmung zur antisemitischen Politik erzeugt wurde, welche Bedingungen die der Zustimmung, Ablehnung und Gleichgültigkeit waren. Die drei eben genannten Wahrnehmungs- bzw. Reaktionsmuster sind die Komponenten des allgemeinen Begriffs "Wahrnehmung". Es geht also um Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster unter besonderer Berücksichtigung der Goldhagen-These.

Die Wahrnehmung antisemitischer Politik aber läßt sich ohne weiteres nicht einfach erfassen, denn es gab keine Umfragen hierzu.

Reaktionen sind in einigen Quellen überliefert, aussagekräftige Quellen hierzu existieren nur über extrem scharfe antisemitische Maßnahmen: Der Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte, Juristen und Hochschullehrer am 1. April 1933, die Nürnberger Gesetze, und schließlich der Pogrom. Auf diese drei Maßnahmen beschränken sich meine Ausführungen im wesentlichen.

Allerdings: Diese drei Maßnahmen entstanden in einer politischen Atmosphäre. Zur Beurteilung und zum besseren Verständnis der Reaktionen sind die jeweiligen Zusammenhänge von Bedeutung, die ich in diesem Rahmen natürlich nur kurz skizzieren kann.

Bevor ich nun endgültig inhaltlich einsteige, noch ein paar Worte zu den verwendeten Quellen:

Die verwendeten Quellen lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: in subjektive und in annähernd objektive.

Subjektive Quellen wie Tagebuchaufzeichungen, z. B. die von Victor Klemperer oder Joseph Goebbels.

Annähernd objektive Quellen wie:

 

  • Berichte der britischen, amerikanischen und französischen Botschafter an ihre Außenminister.
  • Geheime Stimmungsberichte der Gestapo und der SS bzw. SD.
  • Berichte oppositioneller Exil-Gruppen: Berichte der links-sozialistischen Gruppe "Neu Beginnen", ihre "Berichte über die Lage in Deutschland" sind erst kürzlich vollständig publiziert worden und
  • Sopade-Berichte: Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Exil


Letzter formaler Hinweis:
Ich habe in einem nicht unerheblichen Maß englischsprachige Fachliteratur und Quelleneditionen herangezogen. Sofern ich daraus zitiere, mache ich dies in deutscher Sprache, die Übersetzung stammt dann natürlich von mir.

 

Bereits nach den Märzwahlen kam es zu ersten antijüdischen Ausschreitungen, zunächst gegen leicht zu identifizierende Ostjuden. "Die Judenverfolgung des NS-Regimes begann mit der massiven Gewalt aufgeputschter SA-Leute und NSDAP-Mitglieder gegen Juden, die aus Osteuropa eingewandert waren [...] schon bald nach der Reichstagswahl am 5. März 1933 im Berliner Scheunenviertel und auf dem Kurfürstendamm, in Königsberg, Kassel, Hamburg, Breslau, Braunschweig, Frankfurt/Main, Karlsruhe, Köln und anderen Orten."(1) Außerdem meldeten sich sofort diverse nationalsozialistische Verbände zu Wort, um gegen Juden zu agitieren, so z. B. der Bund nationalsozialistischer Juristen, die die Gerichte "juden- und marxistenfrei" machen wollten, ähnliche Forderungen erhob auch der nationalsozialistische Ärztebund.
In Preußen war die Situation auf Grund der Maßnahmen Görings (SA als Hilfspolizei und sg. "Schießerlass") schärfer. "Aber früher hatte die Polizei immerhin versucht, für öffentliche Ruhe und Ordnung zu sorgen. Von nun an gehörte die SA selbst zur Polizei und zog mit 'Hilfspolizei'-Armbinden und mit Karabinern bewaffnet durch die Straßen. Der Terror gegen politische Gegner und gegen die Juden war legalisiert worden. [Hervorhebung: der Verf.]"(2)
Hitler mußte bereits mehrmals intervenieren, um die SA zu zügeln.

Er erklärte am 10. 3. 1933: "Parteigenossen, SA.- und SS.-Männer! [...] Mit dem heutigen Tag hat in ganz Deutschland die nationale Regierung die vollziehende Gewalt in den Händen. Damit wird der weitere Vollzug der nationalen Erhebung ein von oben geleiteter planmäßiger sein. [...] Belästigungen einzelner Personen, Behinderungen oder Störungen des Geschäftslebens haben grundsätzlich zu unterbleiben. [...] Im übrigen laßt euch in keiner Sekunde von unserer Parole abbringen: Sie heißt: Vernichtung des Marxismus."(3)

Hitler war nun offensichtlich in einem Dilemma. Der Druck von innen (SA) zwang zum Handeln. Er mußte dem Druck der SA nachgeben, denn noch einmal konnte Röhm nicht ins Ausland geschickt werden wie 1928, weil die SA als Machtmittel inzwischen zu wichtig war. Eine Absetzung Röhms zu diesem Zeitpunkt käme einem politischen Selbstmord gleich. Allein die bereits dargestellte Rolle der SA als Hilfspolizei zeigt ihre Wichtigkeit zu diesem frühen Zeitpunkt.

Der Radikalität der SA entsprechend, zogen in einigen Orten schon vor dem 1. April Boykottwachen auf.(4) Im wesentlichen verlief der Boykott aber gemäß den Ankündigungen. Die Boykottwachen, bestehend aus SA und SS, besaßen zwei Funktionen: Propaganda und Einschüchterung.

Die Entscheidung, das Geschäft zu betreten, lag letztlich beim Kunden. Im Völkischen Beobachter aus München war zu lesen: "Mit Gewalt wurde niemand daran gehindert, sein gutes deutsches Geld den Rassefremden nachzuwerfen, jedoch waren Käufer verschwindend geringe Ausnahmen. Ihre Namen wurden in den meisten Fällen festgestellt."(5)

Die Kunden wurden also massiv eingeschüchtert. "Posten der SA und der Hitlerjugend zogen vor den jüdischen Geschäften mit den vorgedruckten Plakaten auf und versuchten die Käufer, die es trotzdem wagen sollten, am Betreten der Läden zu hindern. Wer es dennoch darauf bestand, wurde fotografiert, und sein Bild erschien am nächsten Tag in der Lokalpresse."(6) In Annaberg (Sachsen) wurde den Kunden ein Stempel mit der Aufschrift "Wir Verräter kauften bei Juden" ins Gesicht gedrückt.(7)

Gewalt ist ein wesentlicher Aspekt: Sarah Gordon kommt zum Ergebnis, daß der Boykott in München effektiver war, weil dort deutlich mehr Gewalt eingesetzt wurde.

Diese massiven Einschüchterungen wären nicht notwendig gewesen, wenn der Antisemitismus eine weit verbreitete Einstellung gewesen wäre. Dementsprechend gab es auch unterschiedliche Reaktionen in der nicht-jüdischen Bevölkerung:

Erste realistische Bilder über die Haltung "der" Deutschen liefern Berichte der verschiedenen Botschafter in Deutschland. So schrieb der französische Botschafter an seinem Außenminister: "Die konservativen Elemente machen aus ihrer Mißbilligung [des Judenboykotts] keinen Hehl. Es scheint, daß sich die Führung des Stahlhelms daran erinnerte, daß während des Krieges kein deutscher Soldat [...] zurückgeschickt wurde, weil er Jude war [...]. Schließlich wies man in der Wirtschaft darauf hin, daß der brutale Ausschluß der Juden aus der deutschen Wirtschaft zu tiefgehenden Störungen führen, [...] würde. Man behauptet, daß der Reichsbankpräsident Dr. Schacht in einer Unterredung mit dem Kanzler am 30. März seine eindeutige Opposition gegenüber dem geplanten Judenboykott zum Ausdruck brachte [...]"(8)

Aber nicht nur von wirtschaftlichen Problemen kann der Botschafter berichten:

"Die 'Tägliche Rundschau' stellte fest, daß die Schikanen wie die des 1. April den Gerechtigkeitssinn des deutschen Volkes schockierten. [...] Die 'Kölnische Zeitung' vom 5. April hat gleichartige Betrachtungen veröffentlicht. Bei den meisten anderen Zeitungen hat die Furcht jedes Gefühl der Entrüstung und selbst den Sinn für Würde zum Schweigen gebracht."(9)

Die Verwendung der beiden Begriffe "mutig" und "Furcht" zeigen, daß die schon erwähnten Einschüchterungsmaßnahmen Wirkung erzielt haben.

Der britische Botschafter berichtet: "Ich habe die Ehre zu berichten, daß, soweit ich es beurteilen kann, der Judenboykott am 1. April im ganzen Land nicht populär gewesen ist. Andererseits hat kein nennenswerter Stimmungsumschwung zugunsten der Juden stattgefunden. [...] Die Apathie oder der Mangel an Sympathie in der Öffentlichkeit ist nur verständlich, wenn der Hintergrund, speziell der weitere historische Hintergrund mitberücksichtigt, wird, und wenn die Entwicklungen seit dem Krieg nicht außer Betracht bleiben."(10)

Auch der britische Botschafter macht eine wichtige Feststellung: Es kam zu keinem Stimmungsumschwung zugunsten der Juden, was auf er auf die bisherige historische Entwicklung seit dem Krieg zurückführt.(11)

Leider ist die Quellenlage schlecht,(12) wenn die Akzeptanz des Boykotts präziser bestimmt werden soll. Es gab völlig unterschiedliche Reaktionen, die sich in drei Kategorien einteilen lassen: Zustimmung, Ablehnung und Gleichgültigkeit. "Es gab Nichtjuden genug, [...] die ostentativ gerade an diesem Tage in jüdische Geschäfte oder zu ihren Arzt gingen, ihm Blumen brachten und ihn ihrer alten Loyalität versicherten. Dies waren allenfalls Ausnahmen. Die große Masse blieb stumpf oder gab, soweit sie schon genügend nazistisch bearbeitet und umgemodelt worden war, sogar ihrer Freude Ausdruck." (13)

Aber auch dies gehört zu den Reaktionen: "Die Boykott-Aktion wurde vielfach zum Anlaß genommen, jüdische Angestellte zu entlassen. Wie viele davon betroffen waren, ist nicht festzustellen. Die Entlassungen erfolgten, entweder, weil der Arbeitgeber Gefährdungen für seinen Betrieb durch Umsatzrückgänge vorgab oder weil tatsächlich Parteistellen oder von der Partei eingesetzte Betriebskommissare mit Maßnahmen gegen den Betrieb gedroht hatten."(14)

 

 

Ich komme nun zur nächsten antisemitischen Maßnahme: die Nürnberger Gesetze. Hierzu ist aber ein historischer Exkurs notwendig, denn maßgeblich beteiligt an der Genese dieser Gesetze waren die Entwicklungen seit dem 30. Juni 1934.

Am 30. Juni 1934 wurde Ernst Röhm und ca. 80 bis 100 weitere lokale SA-Führer auf Befehl Hitlers ermordet. Der SA wurde klar gemacht, daß ihre Rolle keine wichtige mehr sein wird. Eicke, Inspekteur der SS, sagte den SA-Mitgliedern im Lager Oranienburg, das mit Waffengewalt der SA entrissen wurde, daß es für jedes SA-Mitglied besser sei, sich nach einem bürgerlichen Beruf umzusehen.

Dieses war einfacher gesagt als getan: Die meisten Mitglieder sind in die SA während der Weltwirtschaftskrise gekommen, sie waren also schon seit längerer Zeit arbeitslos. In der SA haben sie nichts weiter gelernt als Straßenterror und alkoholische Exzesse. Weil SA-Mitglieder sehr unbeliebt waren, hatten sie auch wenig Chancen, einen bürgerlichen Beruf zu erlangen. In einem SA-Bericht heißt es: "Die Industrie lehnt mit wenigen Ausnahmen den SA-Mann als Arbeiter ab." "Entlassene SA-Leute erhielten keine Arbeitslosenunterstützung. [...] So trug also die Furcht vor der Entlassung zur Radikalisierung dieser Leute bei."(15)

Es kam zu Entlassungen aus der SA, es gab Gerüchte, daß die SA aufgelöst werden sollte. Demzufolge war die Frustration hoch, die in Aggressionen umschlug: Innerhalb der SA kam sogar einmal zu einem tödlichen Schußwechsel, SA-Mitglieder pöbelten gegen Deutsche in Lokalen und auf der Straße. Es gab diverse Gerichtsverfahren gegen SA-Mitglieder.

Neue Nahrung für ihre Gewaltbereitschaft erhielt die SA ab Frühjahr/Sommer 1935: In der Presse erschienen immer häufiger antisemitische Hetzartikel. Dies hatte vermehrt antisemitische Ausschreitungen zur Folge, deren Ausmaß die des März 1933 deutlich überschritten.

Adam und Genschel vermuten eine zentrale Steuerung der antisemitischen Presse-Artikel,(16) Kulka dagegen spricht von einem "Druck von unten".(17)

Weil Genschel lediglich von Indizien spricht und Adam sich auf einen zeitgenössischen Informationsbericht der Presse stützt (18) und beide nicht die geheimen NS-Quellen Kulkas benutzten, scheint sich hier der Forschungsfortschritt zu spiegeln: die von Kulka ausgewerteten Quellen erhärten das Bild eines Drucks von unten, der vom Propagandaministerium allenfalls begünstigt wurde.(19)

"Der Angriff" kündigte am 26. 4. 1935 eine neue antisemitische Welle an. "Der Stürmer" ermutigte die Bevölkerung zur Teilnahme an den Ausschreitungen.(20)

Das Ausmaß der Boykott- und Terrorwelle wird aus den Berichten der Gestapo und anderen geheimen Quellen deutlich. Es kam über die Boykottaufforderungen hinaus zu eingeworfen Fensterscheiben, Beschmierungen usw. Es kam wieder zum Verbot der Einzelaktionen. Bereits am 11. April 1935 mußte Hess in seiner Funktion als Stellvertreter des Führers ein solches Verbot aussprechen. Bezeichnenderweise war die vertrauliche Anordnung an die Partei gerichtet. Ein deutliches Indiz für den noch bestehenden Dualismus zwischen Staat und Partei.(21)

Die gewalttätigen Aktionen stießen in der Regel auf Ablehnung, natürlich gab es dabei auch aktive Teilnehmer. Dies wird zumindest aus Berlin berichtet.(22) Aktive Teilnahme war aber die Ausnahme. In Bad Kreuznach z. B. verließen zwölf deutsche Kurgäste nach Ausschreitungen mit Sachbeschädigung den Ort, ein Großteil der Bevölkerung lehnte die Ausschreitungen ab.(23) In einem Kieler Bericht der Gestapo heißt es: "Im übrigen ist noch zu bemerken, daß wenn es zur Stellungnahme und Aktion gegen Juden kommt, diese meist von den Angehörigen der NSDAP und der angeschlossenen Organisationen ausgehen, während die große Menge des Volkes selbst wenig Teilnahme für die Judenfrage zeigt."(24)

Aus Recklinghausen wird im Mai 1935 berichtet, daß SA-Männer während des Gebets eine Synagoge stürmten, die Rabbiner verwundeten und fliehende Gläubige verfolgten. Aus dem gleichen Bericht wird deutlich, daß die SA sich als Katalysator einer neuen Regelung zur "Judenfrage" fühlte: "Man will - wie man sich ausdrückt - das Judenproblem von unten aus aufrollen und in Angriff nehmen und glaubt, daß die Regierung dann folgen muß."(25) Klemperer stellt fest (Tagebucheintrag vom 21. Juli 1935: "Die Judenhetze und Pogromstimmung wächst Tag für Tag. Der Stürmer, Goebbels Redden ("Juden wie Wanzen vertilgen!"), Gewalttätigkeiten in Berlin, Breslau, gestern auch hier auf der Prager Straße."

Bankier konstatiert für den Sommer 1935, daß viele mit der Judenverfolgung einverstanden waren, solange nicht eigene Interessen berührt wurden.(26) Tatsächlich waren es deutlich überwiegend rationale Argumente, die gegen die Judenverfolgung eingebracht wurden: Das Ansehen Deutschlands würde gefährdet sein, man machte aus Juden Märtyrer, was letztlich kontraproduktiv sei, Werte würden zerstört werden u. ä.

Diese Gewalt mündete in einer Vielzahl gesetzlicher Regelungen, die teilweise später in die Nürnberger Gesetze einflossen. Die Gesetze selbst aber waren in keinerlei Weise vorgeplant, sondern sind vollkommen spontan entwickelt und geschrieben worden. Der Erlaß der Gesetze sollte wieder die Gewalt kanalisieren.

An dieser Stelle erscheint es mir sinnvoll, kurz in einen historisch-theoretischen Exkurs zu gehen:

Zu recht wurde festgestellt, daß die Gewalt häufig aus rationalen Interessen abgelehnt worden ist, selten aus rein ethisch-humanitären. Hier hinter steht die sg. "Opposition des Ja-aber". Diese Bezeichnung ist auf ein Gutachten des Historikers Buchheim für den Frankfurter Auschwitz-Prozeß 1963 zurückzuführen. Es besagt, daß in Diktaturen eine begründete, rationale Ablehnung, die schließlich in gewissem Grad Zustimmung bedeutet, ist die Regel sei. "Die Opposition des Ja - aber ist charakteristisch für das Leben unter totalitärer Herrschaft überhaupt. Denn wenn der Opposition grundsätzlich jede Legitimität abgesprochen wird, muß sich das in Form der Zustimmung kleiden. Das Nein, das eigentlich gemeint ist, würde von vornherein verworfen werden, deshalb äußert es sich als Sorge".(27)

Um dies zu veranschaulichen, ein kleiner Blick in die Genese der Nürnberger Gesetze. Lösener, sg. "Rassereferent", versuchte, die diskriminierenden Auswirkungen der Gesetze so weit wie möglich zu begrenzen. Er schrieb in einem Aufsatz der VfZ: "Die Parteivertreter erhoben gleich in der ersten Sitzung ihre Maximalforderungen. [...] Das einzig maßgebende Argument, das der Humanität oder des "positiven Christentums", das ich nur einmal Wagner unter die Nase rieb, war unverwendbar und hätte uns bei Hitler ohne weiteres die Qualifikation als nicht mehr ernst zu nehmende Narren eingebracht."(28)

Es ist müßig zu erwähnen, daß Goldhagen sich nicht mit diesem Mechanismus auseinandersetzt hat. Auf der anderen Seite ist bei dieser Quellenlage schwer, wenn nicht sogar unmöglich, zu erkennen, ob hinter ein "Ja – aber" tatsächlich humanitäre Erwägungen stecken oder nur reiner Pragmatismus.

Dies ist ein wesentlicher Grund, warum die Gesetze auf Zustimmung stießen: Man nahm an, daß fortan der Terror eingedämmt sei (der selbe Mechanismus war auch wirksam bei der Zustimmung zum Mord an Röhm u. a. SA-Männern).

Dieser Effekt wird an der Reichsparteitagsrede Hitlers deutlich: "Die deutsche Regierung ist dabei beherrscht von dem Gedanken, durch eine einmalige säkulare Lösung vielleicht doch eine Ebene schaffen zu können, auf der es dem deutschen Volke möglich ist, ein erträgliches Verhältnis zum jüdischen Volk finden zu können."

Die Gesetze wurden als ordnungsstiftend akzeptiert. In einem Lagebericht aus Berlin heißt es: "Die [...] verabschiedeten neuen Gesetze [...] haben nach Jahren des Kampfes zwischen Deutschtum und Judentum endlich klare Verhältnisse geschaffen: Das Judentum wird zur nationalen Minderheit gestempelt und erhält bei staatlichem Schutz die Möglichkeit, ein eigenes Kulturleben und sein eigenes völkisches Kulturleben zu entfalten. [...] Die Gesetze haben überall große Befriedigung und Begeisterung ausgelöst."(29)

Die für die Bevölkerung ordnungsstiftende Funktion der Gesetze wird deutlich an den Bericht aus Koblenz: "Das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre wurde größtenteils mit Genugtuung aufgenommen, nicht zuletzt deshalb, weil es psychologisch mehr als die unerfreulichen Einzelaktionen die erwünschte Isolierung des Judentums herbeiführen wird". (30) Das Wort "größtenteils" deutet an, daß nicht die gesamte Bevölkerung in Koblenz mit den Maßnahmen einverstanden war. Die nicht einverstandene Minderheit ist leider nicht näher quantifizierbar.

Diese deutliche Zustimmung aber war nur von kurzer Dauer und muß unter dem unmittelbaren Eindruck der Gesetze betrachtet werden. Im Bericht Nr. 17 (Dezember 1935/Januar 1936) der Gruppe "Neu Beginnen" heißt es: "Judenfrage, Stimmung in Berlin: In der Judenfrage ist wenig Spontaneität im Sinne der NS-Rassenauffassungen festzustellen. Den meisten Leuten sind die Judenbestimmungen gleichgültig. Sie drängen keineswegs auf ihre Durchführung. Allerdings ist auch keine allgemeine Mißstimmung dagegen vorhanden, in einzelnen Fällen, z. B. im Falle der jüdischen Kassenärzte oder Rechtsanwälte wird Kritik geäußert."

Dies ist erneut ein typischer Effekt: Keine Solidarität, kritische Äußerungen zum Antisemitismus gab es, wenn man intensiveren Kontakt mit Juden hatte: Als Patient beim Arzt oder als Klient beim Rechtsanwalt.

Hitler hat sich übrigens für die sanfteste Variante aus den Gesetzesentwürfen entschieden, was Goebbels gegen ihn aufbrachte: Er ließ die Rundfunkübertragung der Rede abbrechen. Andererseits war auch er gegen die Ausschreitungen: In seinem Tagebucheintrag vom 19. September heißt es: "Verbot aller Ausschreitungen, vor allem in Judenfragen [...]. Ob es etwas nützt? Ich glaube es kaum. Die meisten Männer sind unbelehrbar. Es ist zum Weinen."

Tatsächlich kam es zunächst zu einem Abflauen der Gewalt. Allerdings ist man 1936 (seitens der Polizei und der SS) energischer gegen die Ausschreitungen vorgegangen wegen der Olympischen Spiele.

 

 

Ich komme nun zur Wahrnehmung des Pogroms am 9. 11. 1938. Auch hierfür ist es notwendig, die Vorgeschichte zu umreißen:
 

Am 12. März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich ein, einen Tag später wurde der Anschluß proklamiert.

Bereits in der Nacht zuvor kam es zu zahlreichen pogromartigen Ausschreitungen, insbesondere in Wien.(31) "Sich als 'arische Herrenmenschen' fühlende Wiener und Wienerinnen warteten nicht die Ankunft der deutschen 'Befreier' ab, um ihren antisemitischen Haltungen freien Lauf zu lassen. [...] Was hier entfesselt wurde, hatte mit der 'Machtergreifung' in Deutschland [...] nichts mehr zu tun. Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Mißgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen Rachsucht - und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt."(32)

Die mehrere Wochen anhaltenden Ausschreitungen gegenüber Juden veranlaßten deutsche Stellen schon frühzeitig zu mehrmaliger Intervention. "Heydrich drohte am 17. März [...] mit dem Einsatz der Gestapo gegen eigene Parteigenossen". (33) "Vom Innenministerium kam am 21. 3. 1938 ein Ruf zur Ordnung".(34)

Erst die Drohung Bürckels,(35) am 29. 4. 1938, den Verantwortlichen mit Parteiausschluß zu drohen, brachte einen Rückgang der Gewalttätigkeiten.(36) Die Vorgänge in der sg. "Osttmark" lassen sich mit "Radau-Antisemitismus" am ehesten charakterisieren.

In diesem Zusammenhang erschien im "Völkischen Beobachter" vom 26. 4. 1938 ein bemerkenswerter Artikel, in dem es u. a. heißt: "Mußte den Norddeutschen der Nationalsozialismus also vielfach erst auf die privaten, sozusagen unpolitischen Gefahren des Judentums aufmerksam machen, so ist es in Wien im Gegenteil die Aufgabe einer verantwortungsbewußten, um die Untadeligkeit und Reinheit der Bewegung besorgten Volkserziehung, den überschäumenden Radikalismus einzudämmen und die verständliche Reaktion auf die jüdischen Übergriffe eines geschlagenen Jahrhunderts in geordnete Bahnen zu lenken. Denn - das merke sich jeder - Deutschland ist ein Rechtsstaat. Das heißt: In unserem Reiche geschieht nichts ohne gesetzliche Grundlage (...). Pogrome werden keine veranstaltet, auch nicht von der Frau Hinterhuber gegen die Sara Kohn im dritten Hof, Mezzanin, bei der Wasserleitung. [Hervorhebung: der Verf.]"(37)

Die Nationalsozialisten hatten Angst um ihr Ansehen, die Ablehnung der Gewalt in der deutschen Bevölkerung im "Altreich" war zu offensichtlich, um solche Vorgänge dulden zu können. Außerdem waren solche wilden Aktionen schwer zu kontrollieren, es bestand die Gefahr, daß die Entwicklung unkontrollierbar wurde. Man legte also nach wie vor Wert auf eine "gesetzlich" geregelte Lösung der selbst geschaffenen Judenfrage. "Gesetzlich" heißt hier nichts weiter als von der Regierung kontrolliert unter Abwesenheit größerer Gewalttätigkeiten, der "Radau-Antisemitismus" war verpönt.

Eine für unsere Zusammenhänge wichtige Beschreibung dieser Ereignisse liefert Walter Grab. Nach dem Anschluß Österreichs wurde er von Nationalsozialisten auf der Straße festgehalten, abgeschleppt und gezwungen, eine Turnhalle zu säubern. Er beschreibt weiter: "Und während ich da so hockte und mich bückte [...], erhebe ich meine Augen und mein Blick trifft genau den Blick eines dieser lachenden Nazis [...] Und den erkannte ich sofort. Das war nämlich ein Klassenkamerad aus der Volksschule. [...] Und dieser ehemalige Klassenkamerad Lichtenegger sieht mich - und erkennt mich ebenso, wie ich ihn erkannte. Dieses Erkennen war ihm unangenehm und peinlich. Das merkte ich in dieser Blitzsekunde; ich spürte, daß er nicht mich, also den Juden, den er kannte, erniedrigen wollte, sondern den anonymen Juden, den jüdischen Popanz des nationalsozialistischen Massenwahns." Der Schulfreund ließ ihn schließlich gehen.(38)

Hier wird überdeutlich, daß die soziale Distanz ein wichtige Rolle spielte, um Gewalt zu ermöglichen.

Am 7. November 1938 wurde das Botschaftsmitglied Ernst vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris erschossen.

Es kam bereits danach zu den ersten Demonstrationen und lokalen Pogromen. Eine ausländische Journalistin notierte: "Im Omnibus, auf der Straße, in Geschäften und Kaffeehäuser wird der Fall Grünspan laut und leise diskutiert. Nirgends merke ich antisemitische Entrüstung, wohl aber eine bedrückende Beklommenheit, wie vor dem Ausbruch eines Gewitters."(39)

Traditionellerweise versammelte sich die SA und die Parteiprominenz jährlich ab 8. November in München, um dem Putsch-Versuch von 1923 zu gedenken. Natürlich waren Hitler und Goebbels ebenfalls anwesend.

Die SA-Mitglieder waren ohnehin aufgebracht: Die allgemeine Stimmung spielte eine Rolle, man war bereits durch die Presse aufgehetzt und natürlich durch die Tatsache, daß man sich wegen des Putschversuchs traf. Die Atmosphäre innerhalb der SA war deswegen sowieso aufgeladen. In diese Atmosphäre trifft nun die Nachricht vom Tod vom Raths am 9. November um 22 Uhr ein. Goebbels hielt eine wüste antisemitische Rede und sagte u. a. "Der Führer habe entschieden, daß derartige Demonstrationen von der Partei weder vorzubereiten noch zu organisieren seien, soweit sie spontan entstünden, sei ihnen aber auch nicht entgegenzutreten."(40)

Die aufgebrachten Menge interpretierte dies dahingehend, daß man einen Pogrom durchführen sollte, dem man nicht anmerken kann, daß er von der Partei durchgeführt wurde. Demzufolge hat ein nicht unwesentlicher Teil der SA-Angehörigen auf das Tragen der Uniform verzichtet. Dies ist auch den zeitgenössischen Beobachtern aufgefallen:
Der amerikanische Konsul berichtet in einem Brief vom 12. November dem Botschafter in Berlin: "Diese Aktionen wurden durchgeführt von jungen Erwachsenen und Jugendlichen. Es war leicht zu erkennen, daß sich unter den Zivilkleidern trainierte und disziplinierte SA oder SS Männer befanden." Dies war nicht selten der Fall: Häufig wurden lokale SA-Führer unterrichtet, daß eine "Aktion" durchgeführt werden solle mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß dies in "Zivil" zu erfolgen habe.

Ich betone diesen Aspekt ausdrücklich, denn Goldhagen hat die Zivilkleidung in Goebbelscher Lesart interpretiert: Als Ausbruch des Volkszorns.

Dem war überhaupt nicht so: Zwar wurde vielfach wieder der Pogrom aus pragmatischen Gesichtspunkten abgelehnt, aber zwei wichtige Reaktionen sind festzuhalten:

Emotionale Ablehnung war häufiger zu beobachten
Helfendes Verhalten stieg an

Die Bevölkerung beteiligte sich kaum am Pogrom. "Ich bin hilflos vor Entsetzen wie die Vorübergehenden, denen ich ihre Abscheu vom Gesicht ablesen kann. Großspurig und auffallend benehmen sich nur die Hakenkreuzbeärmelten."(41)

Die Bevölkerung schien aus der Apathie ab 1936 aufgeschreckt worden zu sein. Die Ablehnung war außerordentlich breit. Nach Bankier wollten Bürgerliche keine Parteimitglieder mehr zu Teeparties und Konzerten einladen, einige Mitglieder begannen, sich von der NSDAP loszusagen. Häufig wurde pragmatisch argumentiert: Die Zerstörung widerspreche dem Vierjahresplan u. ä.(42)

Die Botschafter einiger Länder stellten die ablehnende Haltung ebenfalls fest, z. B. der amerikanische Generalkonsul in Stuttgart: "Die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung, vielleicht mehr als 80 Prozent, haben den Beweis ihrer völligen Ablehnung dieser gewalttätigen Aktionen gegen Juden erbracht. Viele Leute senken den Kopf vor Scham." (43) Ein wichtiges Wort liefert der Bericht: "Scham". Bankier stellt ähnliches fest: "Zum ersten Mal war in größerem Maße ein Schamgefühl zu beobachten."(44)

Es scheint marginal zu einem Stimmungswandel gekommen zu sein, obwohl der Terror verschärft wurde, z. B. wurden, daß geht aus den Berichten eindeutig hervor, Deutsche verhaftet, die ihren Unmut allzu deutlich Platz gemacht haben. Um so erstaunlicher ist es, daß sogar helfendes Verhalten anstieg:

Ich lasse noch einmal den amerikanischen Konsul aus Stuttgart zu Wort kommen: "Einige Arier wurden verhaftet, weil sie zu offen ihre Entrüstung gezeigt haben. Viele Personen, die mit den Juden heimlich sympathisieren oder die rücksichtslose Behandlung hilfloser Menschen ablehnen, werden mehr und mehr ängstlich, ihre Gefühle offen auszudrücken. Wie auch immer, ich habe von vielen Beispielen gehört, daß Arier den geplagten jüdischen Familien heimlich Hilfe leisten und sie sogar mit Lebensmitteln und Geld versorgen." Dieser Sachverhalt wird von anderen Berichten, auch von SOPADE-Berichten, noch weiter bestätigt.

"Man äußerte sich recht offen, und viele Arier wurden deswegen verhaftet. Als bekannt wurde, daß man eine jüdische Frau aus dem Wochenbett weggeholt hatte, äußerte sich sogar ein Polizeibeamter, das sei zuviel. 'Wohin soll Deutschland denn mit diesen Methoden steuern?' Er wurde daraufhin selbst verhaftet. [...] Viele Leute nehmen sich der jüdischen Frauen und Kinder an und haben sie bei sich aufgenommen. Frauen gehen für Jüdinnen einkaufen, weil man diese keine Lebensmittel mehr verkaufen darf. [...] Aber im Volke bewirkte diese Aktion doch eine große Einschüchterung. [...] Allen wurde klar: Die Nazis haben die Macht zu allem."(45)

Die Schilderungen sollen nicht den Eindruck erwecken, daß die Bevölkerung plötzlich dem Altruismus verfallen ist. Solidarische Handlungen waren Handlungen von Minderheiten. Nach dem Pogrom aber stieg die Anzahl solcher Handlungen deutlich. In einem Stimmungsbericht heißt es: "Es wird aber hinzugefügt, daß sich mehr als nur ein paar Stimmen gegen die Rowdys erhoben haben: Die Bevölkerung reagiere empfindlich auf diese Vorgänge und empfanden die Ausschreitungen als unvereinbar mit der modernen Zivilisation."(46)

Die Nationalsozialisten lenkten die sg. "Judenfrage" wieder in gesetzliche Bahnen. Es gab eine Reihe von Berufsverboten, Juden mußten für die Schäden selbst aufkommen usw. usw. Es gab zwei Konferenzen, um diese Maßnahmen zu erörtern.

Am 6. Dezember 1938 fand unter Görings Leitung die zweite Konferenz statt "mit den Gauleitern, Oberpräsidenten und Reichsstatthaltern über die Judenfrage", also mit Parteimitgliedern. In diesem Zusammenhang viel auch erstmals das Stichwort "Madagaskar".

Zwei Dinge sind Göring sehr wahrscheinlich aufgefallen: Erstens hatte er Bedenken gegen radikalen Ausschreitungen, denn er schärfte seinen Zuhörern (von der Partei!) ein, daß ausschließlich die staatlichen Stellen für die Judenpolitik zuständig sind. In diesem Zusammenhang gehört auch die Tatsache, daß Göring auf anraten Hitlers eine Kennzeichnung der Juden nicht wollte, "1. weil keiner von uns in der Lage wäre, dauernde Exzesse zu verhindern;" (47) Eindeutige Bedenken also gegen weitere Ausschreitungen radikaler Parteimitglieder. Außerdem untersagte er die Darstellung der außerordentlich scharfen Maßnahmen in der Presse. Hier hinter steht natürlich auch die Befürchtung, durch die Presse wieder die Radikalen anzustacheln, aber auch Bedenken gegen eine zu projüdische Stimmung in der Bevölkerung, weil der Protest der Bevölkerung nach dem Pogrom so heimlich nicht gewesen sein kann, denn Göring war sichtlich irritiert und forderte, daß die Öffentlichkeit (über die Presse) nichts über die antijüdischen Maßnahmen erfährt. "Ich betone noch einmal, daß ein solcher Judenbann nicht in der Presse veröffentlicht werden darf."(48)

 

 

Abschließend möchte ich die hier aufgezeigten Tendenzen noch einmal zusammenfassen:

1. Der breiten Bevölkerung war der Antisemitismus bis zum Pogrom gleichgültig. Nur wenige zeigten offen Solidarität. Träger der Gewalt waren in erster Linie SA-Mitglieder.

2. Diese Gewalt stieß auf Ablehnung. Die Nürnberger Gesetze wurde deswegen als ordnungsstiftend wahrgenommen.

3. Der Pogrom schließlich hat solidarisches Handeln verstärkt, der Terror war zu offensichtlich.

4. Kontakte mit Juden spielten eine wesentliche Rolle. Diejenigen, die Juden in ihrem Umfeld kannten, haben sich stärker solidarisiert.

5. Der Antisemitismus wurde häufig aus pragmatischen Gründen abgelehnt. Hier hinter steht auch (nicht ausschließlich) die "Opposition des ‚Ja-aber‘".

All diese Tendenzen hat schon Richard Rubenstein in "Approaches to Auschwitz" treffend zusammengefaßt: "Die Deutschen waren keine einträchtigen rabiaten Judenhasser. Hitler kam nicht an die Macht, weil er versprach, Deutschland judenrein zu machen, am wenigsten durch Gaskammern und Krematorien. Hitler und seine Helfer, besessen von Rassenhaß und einer mörderischen Mission, haben trotzdem die benötigte Unterstützung gefunden, um diktatorische Kontrolle über Deutschland und der Bevölkerung zu erlangen. Annäherungen an Auschwitz folgten. Sie folgten, weil die meisten Deutschen normale Menschen waren. Unglücklicherweise sind die meisten Menschen nicht sehr heldenhaft. Mangels dessen sorgen sie sich zunächst um sich selbst und um andere zuletzt, insbesondere wenn die anderen als feindlich betrachtet werden."(49)

Weder die antisemitischen Ereignisse vor 1939 noch die darauf folgenden entsprangen einem tief verinnerlichten Antisemitismus, wie Goldhagen behauptet. Die Realität war vielschichtiger. Das heißt jedoch nicht, daß Goldhagen vollkommen unrecht hat. Die soziale Distanz zu Juden ist der Grund für Gleichgültigkeit. Die Jahre 1871 (rechtliche Gleichstellung der Juden) bis 1933 haben nicht ausgereicht, um Juden als das zu akzeptieren, was sie waren: Deutsche, für die man sich einsetzt. Das Faktum, daß Antisemitismus erlaubt war, ließ auch blanken Egoismus zur eigenen Vorteilsnahme zum Vorschein kommen.

Abschließend lasse ich noch einmal den Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel zu Wort kommen: "Selbstverständlich war ich auch gegen die Juden, was mir leicht fiel, weil ich nur wenige kannte, die ich selbstverständlich als positive Ausnahme betrachtete."(50)

Diese Distanz war verantwortlich für die Gleichgültigkeit vieler. Auf Grund dieser Distanz konnte die antisemitische Propaganda auch ihre Wirkung entfalten, weil das Propaganda-Bild kaum auf seine Richtigkeit geprüft wurde. Es gab hierfür zu wenig Kontakte. Es bedarf eines Miteinanders, keines Nebeneinanders. Verantwortlich für die Diskriminierungen waren gesellschaftliche Prozesse, die auch heute wirksam sind oder sein können. Den Holocaust auf den Antisemitismus zu reduzieren hieße, daß es kaum notwendig sei, sich damit auseinanderzusetzen. Das Gegenteil ist der Fall!

 

Wichtige Quellensammlungen


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Sekundärliteratur


Abkürzungen: 
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1 Drobisch, Klaus (Anmerkung 1), S. 230. Ebenso Plum, Günther: Wirtschaft und Erwerbsleben, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Die Juden in Deutschland 1933-1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, 3. durchges. Aufl., München 1993, S. 268-313, hierfür S. 273f. Er zitiert die Presse für Vorfälle unmittelbar nach der Märzwahl (ab 7. 3. 1933). Am Berliner Kurfürstendamm jedoch dürften kaum Ostjuden gelebt haben. In Berlin waren ca. 25% der Juden ausländischer Herkunft. Davon kamen als Ostjuden 39,7% aus Polen und 11,8% aus Rußland (UdSSR). Zahlen aus: Schoeps, Julius H. (Hrsg.): Juden in Berlin 1671-1945, Berlin 1988, S. 191.

2 Ebd., S. 23.

3 Aufruf Hitlers an NSDAP, SA und SS vom 10. März 1933, abgedruckt in: Machtergreifung, S. 136f.

4 Genschel, Helmut: a. a. O., S. 51. Ebenso Plum, Günter: a. a. O., S. 275 und Barkai, Avraham: a. a. O., S. 28.

5 Völkischer Beobachter aus München vom 1./2. 4. 1933, zitiert nach Genschel, Helmut: a. a. O., S. 53. Auch hier Begann die Aktion schon am 31. 1. 1933.

6 Barkai, Avraham: a. a. O., S. 28. Dieses Vorgehen darf aber nicht verallgemeinert werden.

7 Plum, Günter: a. a. O., S. 277. Die Aktion begann schon am 31. 3. 1933.

8Aus einem Bericht des französischen Botschafters in Berlin, François-Poncet, an Außenminister Paul-Boncour vom 5. April, abgedruckt in Machtergreifung, S. 212-215, hier S. 214. Diese Unterredung hat tatsächlich stattgefunden.

9 Ebd

10 Aus einem Bericht des britischen Botschafters in Berlin, Rumbold, an Außenminister Simon vom 5. April., zitiert nach: Machtergreifung, S. 232.

11 Einen guten Überblick hierüber gibt das 2. Kapitel "Why Germany?" von Kren, George M./Rappoport, Leon: The Holocaust and the Crisis of Human Behavior, 2nd rev. edition, New York/London 1994, S. 29-49..

12 Bankier, David: a. a. O., S. 95.

13 Ball-Kaduri, K. J.: Das Leben der Juden in Deutschland im Jahre 1933. Ein Zeitbericht, Frankfurt a. Main 1963, S. 86, zitiert nach Barkai, Avraham: a. a. O., S. 29.

14 Plum, Günther: a. a. O., S. 280

15 Bankier, David: a. a. O., S. 45.

16 Genschel, Helmut: a. a. O., S. 108 und Adam, Uwe Dietrich: a. a. O., S. 121. Adam vermutet die Initiative im Propagandaministerium.

17 Kulka, Otto Dov: Die Nürnberger Rassegesetze und die deutsche Bevölkerung im Lichte geheimer NS-Lage- und Stimmungsberichte, in: VfZ, 32. Jhg. (1984), Heft 4, S. 582-624, hier S. 615.

18 Vgl. Adam: Uwe Dietrich: a. a. O..

19 Zu diesem Schluß kommt Angress, Werner T.: Die "Judenfrage" im Spiegel amtlicher Berichte 1935, in: Büttner, Ursula (Hrsg.): Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus (Festschrift für Werner Jochmann zum 65. Geburtstag/Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte Bd. 22), Bd. 2 (Verfolgung, Exil, Belasteter Neubeginn), Hamburg 1986, S.19-43, hier S. 21. Ebenso Burrin, Philippe: a. a. O., S. 46.

20 Bankier, David: a. a. O., S. 98.

21 Vgl. Angress, Werner T.: a. a. O., S. 27.

22 Ebd., S. 28..

23 Ebd., S. 28f.

24 Zitiert nach Bankier, David: a. a. O., S. 98.

25 Aus einem Lagebericht Mai 1935, zitiert nach Kulka, Otto Dov: a. a. O., S. 609.

26 Vgl. Bankier, David: a. a. O., S. 102ff.

27 Buchheim, Hans: Befehl und Gehorsam, in: ders./Broszat, Martin/Jacobsen, Hans-Adolf/Krausnick, Wilhelm: Anatomie des SS-Staates. Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, München 61994, S. 295.

28 Lösener, Bernhard: a. a. O., S. 280.

29 Aus der allgemeinen Einführung eines Lageberichts aus dem Berichtszeitraum September 1935 in Berlin, zitiert nach Kulka, Otto Dov: a. a. O., S. 602.

30 Ebd

31 Vgl. Safrian, Hans: a. a. O., S. 28f.

32 Ebd., S. 29.

33 Ebd., S. 31

34 Ebd., S. 32

35 dem späteren Reichskommissars für die "Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich"

36 Vgl. ebd.

37 Völkischer Beobachter vom 26. 4. 1938, S. 2f, zitiert nach Safrian, Hans: a. a. O., S. 33.

38 Grab, Walter: "Die Juden sind Ungeziefer, ausgenommen mein jüdischer Schulkamerad Grab", in: Wollenberg, Jörg (Hrsg.): "Niemand war dabei und keiner hat's gewußt". Die deutsche Öffentlichkeit und die Judenverfolgung 1933-1945, München 21989, S. 45-50.

39 Zitiert nach Benz, Wolfgang: a. a. O., S. 507

40 Herbst, Ludolf: Das Nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Frankfurt a. Main 1996.

41 Tagebuchauszug eines Zeitgenossen in: Lauber, Heinz: a. a. O., S. 157.

42 Bankier, David: a. a. O., S. 121.

43 Lauber, Heinz: a. a. O., S. 158.

44 Bankier, David: a. a. O., S. 119.

45 Deutschland-Berichte der SOPADE (Sozialdemokraten aus dem Pariser Exil), Bd. 5, 1938, S. 1205ff, zitiert nach Geschichte, S. 100f

46 Bankier, David: a. a. O., S. 117

47 Ebd., S. 387

48 Ebd., S. 388

49 Rubenstein, Richard L./Roth, John K.: Approaches to Auschwitz. The Holocaust and its Legacy, Atlanta (Georgia), 1987, S. 200.

50 Manfred Rommel in: Eitner, Hans-Jürgen: Hitlers Deutsche. Das Ende eines Tabus, Gernsbach o. J., S. 355